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Perfect Perfect Days

Bleibt bloß weg! Um Japan zu erleben, müsst Ihr Euch eigentlich nur einen Film ansehen.

 

Spaß beiseite, jedenfalls halbwegs. Japan ist inzwischen wieder rappelvoll mit Touristen. Das ist großartig für die japanische Tourismusindustrie. Und es ist großartig für die Touristen, die ein wunderschönes, abwechslungsreiches, kulturell und kulinarisch reichhaltiges und einfach zu bereisendes Land kennenlernen. Es ist etwas weniger großartig für uns, die wir uns in der Pandemie daran gewöhnt hatten, Japan für uns zu haben. Ach, war das herrlich, nichts langfristig reservieren zu müssen, Sehenswürdigkeiten tatsächlich sehen zu können und nicht nur über die Köpfe anderer, mitunter arg rüpeliger Touristen (insbesondere jener aus einem anderen, sehr bevölkerungsreichen asiatischen Land) fotografieren zu können. Wer einmal den silbernen Pavillon in Kyoto ganz für sich allein hatte, wird mir nachfühlen können.

 

In den zehn Jahren vor der Pandemie hatte Japan es geschafft, die Zahl der Touristen von etwa acht Millionen auf über 31 Millionen im Jahr zu steigern. Und auch nach dem Ende der Pandemie gehört Japan wieder zu den beliebtesten Reisezielen weltweit. Es ist voll. Nun ja, wir arrangieren uns damit. Würdet Ihr, liebe Touristen, trotzdem ein paar, eigentlich nur drei einfache Empfehlungen beherzigen?

 

  1. Kein Trinkgeld geben. Trinkgeld ist ein Affront. Die perfektionistischen Japaner lassen sich doch nicht für die Selbstverständlichkeit erstklassigen Services bezahlen. Pah!
  2. Taxitüren nie selbst auf- oder zu machen. Das macht der Fahrer selbst, neuerdings elektrisch, ehedem und in älteren Taxis auch heute noch mittels einer mechanischen Konstruktion. Wenn der Fahrgast die Tür zuschmeißt, rammt er dem Fahrer im Zweifel die Mechanik derart ins Handgelenk, dass es schmerzt.
  3. Insgesamt ein bisschen ruhiger sein als daheim, rücksichtsvoller, in erster Linie darauf bedacht, seinen Mitmenschen nicht zur Last zu fallen. Ich weiß: Das alles fällt Westlern schwer. Aber Ihr werdet sehen, wie beglückend es ist, wenn man nicht ständig Erster sein will.

 

Dabei ist es ein Irrglaube, dass Japaner immer still und strebsam seien. Bei den abendlichen Nomikais (ein Kompositum aus den japanischen Wörtern für „trinken“ und „treffen“) in Izakayas, den typischen japanischen Esskneipen, ist es sehr lebhaft; es wird ständig gelacht und gekeckert und rumgealbert. Japaner sind sehr gesellig.

 

Sehr still ist allerdings Herr Hirayama. Hirayama-san ist der Protagonist in dem so ruhigen wie bewegenden jüngsten Film von Wim Wenders, „Perfect Days“, der für Japan im Rennen um den Oskar für den besten fremdsprachigen Film war. Hirayama wird gespielt von dem japanischen Star Kōji Yakusho, der, weil er mal im Bezirksbüro des Tokioter Bezirk Chiyoda gearbeitet hat, sich den Künstlernamen Yakusho gegeben hat. Yakusho bedeutet Behörde oder Amt. Was hätte aus Götz Georg noch alles werden können, hätte er sich doch nur Götz Grundbuchamt genannt?

 

Hirayama jedenfalls führt ein einfaches Leben. Er reinigt Toiletten im Tokioter Bezirk Shibuya. Zwar wurden all diese Toiletten von japanischen Architekten im Rahmen des „The Tokyo Toilet“-Projekts designt und darob zu kleineren Attraktionen. Aber natürlich ist das Säubern öffentlicher Toiletten auch im reinlichen und disziplinierten Japan tendenziell keine erstrebenswerte Tätigkeit. Hirayama versieht sie dennoch akribisch und mit einer in Japan verbreiteten Schicksalsergebenheit. Das Leben, das Schicksal oder gar, wenn man spirituell veranlagt ist, eine höhere Macht weist uns eine Rolle im Leben zu, die man annimmt und nach besten Kräften erfüllt. Bei Hirayama hat man allerdings das Gefühl, dass nicht das Schicksal ihn in seine Tätigkeit verfügt hat, sondern er vielmehr ganz bewusst ein einfaches, abwechslungsarmes Leben gewählt und darin sein Glück gefunden hat. Die Hintergründe bleiben dabei im Ungefähren.

 

Über zwei Stunden zeigt der Film Hirayamas repetitiven Alltag, ohne auch nur eine Sekunde langweilig zu sein. Seine tägliche Routine erfährt durch kleinere und größere Ereignisse und Begegnungen immer wieder Abweichungen. Sein vordergründig monotones Leben erweist sich trotz oder gerade wegen Hirayamas Genügsamkeit als reichhaltig und befriedigend.

 

Man verlässt den Film nach zwei Stunden bewegt und verändert. Nicht nur möchte man es Hirayama, ganz banal, gleichtun und ab sofort Musik wieder über Kassette hören. Man schämt sich auch fast für unser atemloses Leben im Kapitalismus zwischen Bildschirm-, Konsum- und Ereignisobsessionen. Wie attraktiv erscheint demgegenüber das Leben eines Menschen, dem seine einfache Tätigkeit, ein paar Musikkassetten und Second-Hand-Bücher, der tägliche Besuch des Badehauses, einfache Mahlzeiten und von Erwartungen unbelastete menschliche Begegnungen zur Daseinszufriedenheit genügen.

 

Darüber hinaus vermittelt „Perfect Days“ einige sightseeingarme und doch sehenswürdigkeitenreiche Eindrücke von Tokio und dem Leben in der Stadt: Hirayama wohnt in einer kleinen, einfachen Wohnung, schläft auf einem Futon in einem mit Tatami-Matten ausgelegten Raum, zieht sich jeden Morgen einen Dosenkaffee aus einem der unzähligen Getränkeautomaten („Jihanki“, von denen es in Japan pro 23 Einwohnern einen gibt) und isst seinen Mittagssnack stets im selben Park (für Interessierte: am Yoyogi Hachmangu Shrine); er geht jeden Nachmittag in ein Sentō (ein typisches Badehaus), isst in einer unterirdischen „Fressmeile“ sein Abendbrot, wäscht seine Wäsche in einem Waschsalon, fährt in einem winzigen Handwerkerwagen über die zahlreichen faszinierenden Hochstraßen durch die Stadt; er besucht den sehr speziellen Plattenladen Flash Disc Ranch im angesagten Vintage-Viertel Shimo(kitazawa) (dazu folgt in Kürze ein Blog), kauft gebrauchte Bücher in einem kleinen Buchladen, besucht an jedem Wochenende denselben Izakaya, müht sich mit einem überdrehten Kollegen ab – kurz: der Film vermittelt ein treffenderes Bild von Japan als eine klassische Touritour zu den gängigen Attraktionen (von der ich gleichwohl nicht abrate). 

 

 

Meine Liebste hat sich den Film kürzlich ein zweites Mal im Kino angesehen, diesmal mit ihren besten Freundinnen, einer Japanerin und einer Koreanerin. Alle drei verließen das Kino in Tränen der Rührung. Die japanische Freundin bestätigte meiner Frau, dass der Film durch und durch japanisch sei. Dass er von einem deutschen Regisseur stamme, merke man nicht. Nun ist Wim Wenders – wie übrigens auch Doris Dörrie – seit Jahr und Tag ein Kenner Japans und seines Kinos, vor allem des großen Regisseurs Yasujirō Ozu (auch wenn der schon bummelig sechzig Jahre nicht mehr unter uns weilt). Ich glaube gleichwohl, dass man an einer Szene erkennen kann, dass der Film nicht von einem japanischen Regisseur stammt:

 

Hirayama umarmt seine Schwester.

 

Vergleichbar Verwegenes habe ich in den zahlreichen japanischen Dorama- (sprich: Drama-) Filmen, die ich vor allem in Flugzeugen von und nach Japan angeschaut habe, noch nicht erlebt. Auch diese Werke gehen mir immer sehr zu Herzen, obwohl oder weil sie meist ein und demselben Muster folgen. Im Detail mag es Abweichungen geben, doch ist ihnen oft folgendes gemein: Sie basieren auf einem Manga; die Geschichte spielt an einer High School oder Uni in einem Provinznest; ein Außenseiter und die Schulschönste (oder eine Außenseiterin und der Chef-Mädchenschwarm oder gleich zwei Außenseiter, aber immer hetero) verlieben sich langsam, wirklich ganz langsam ineinander; das gipfelt freilich nie in irgendeiner Art von Berührung, geschweige denn tatsächlichen Zärtlichkeiten, es bleibt bei rein verbalen amourösen Übereinkünften; es gibt eine schräge beste Freundin und/oder einen ulkigen Buddy; Eltern spielen allenfalls als Bedenkenträger eine Nebenrolle; eine Hauptfigur stirbt völlig unvermittelt oder nach langer seltener Krankheit; Bonus: die weibliche Hauptfigur vergisst jede Nacht, was am Vortag war, also auch die Bemühungen des sie anschmachtenden Protagonisten – die Variationen des Themas aus „50 First Dates“ in japanischen Filmen sind scheinbar endlos.

 

 

Ich liebe diese actionfreie, kinematographische Meterware und lasse mich von ihr nicht selten ebenso zu Tränen rühren, wie Wim Wenders das mit „Perfect Days“ perfekt, wenn auch auf ungleich höherem Niveau und doch ganz undramatisch geschafft hat. Bitte unbedingt anschauen! Den Film und die Toiletten.


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Kommentare: 1
  • #1

    Holger (Sonntag, 25 Februar 2024 07:26)

    Jochen, du bist ein wunderbarer japanischer Nerd und deutscher Freak. Hätte ich nie gedacht!
    Wann treffen wir uns endlich mal?
    In Düsseldorf (da bin ich gerade)
    In Rio da bin ich bis Mitte/Ende Juli und ab Oktober bis mind Mai 2025
    Oder in Tokio, da war ich noch nie, möchte ich sehr gerne noch hin.
    Liebe Stürzelbergische Grüss, Holger