Big Love Records - Bis ans Ende der Welt

Große Liebe! Ich habe sie gefunden. In einer Seitenstraße in Harajuku. Im dritten Stock! „Big Love Records“ heißt sie sinnigerweise und ist ein kleiner Plattenladen, in dem nur Neuware feilgeboten wird, und zwar überwiegend trefflich kuratiert aus den Genres Independent und Alternative.

 

Fast noch schöner ist, dass es in einer Ecke des Ladens eine kleine Bar gibt, an der man sich nach der Fron des Plattenstöberns ein, zwei Getränke genehmigen kann, darf und sollte. Das wird erleichtert, wenn man durch hinreichenden Umsatz auf seiner Big-Love-Stempelkarte zehn Stempel versammelt und sich deshalb Anspruch auf ein Freigetränk erdient hat. Der Laden ist winzig und die Bar noch winziger, und doch wird hier frisch gezapftes Bier vorgehalten. Hier werden die Prioritäten also akustisch wie bacchantisch klar und zutreffend gesetzt.

 

Und so tritt man bepackt mit der ein oder anderen Vinyl-Entdeckung und leicht angeschickert wieder ins Freie und wundert sich, wieso man in einer Nebenstraße im dritten Stock auf einer Außentreppe steht und wie man hier je hingefunden hat. Das, liebe Lesende, ist eines der großen Mysterien des Lebens in Tokio. Es schadet hier ganz offensichtlich nicht, wenn man sein Geschäft etwas im Verborgenen betreibt. Und damit meine ich durchaus nicht halb legale, womöglich gar yakuzanahe Unternehmungen.

 

Nein, es gibt hier unheimlich viele Geschäfte, Restaurants und Kneipen (Izakayas genannt), die in höheren Stockwerken, verwinkelten Kellern oder Seitenstraßen betrieben werden, und das mit großem Erfolg. Die japanische Kundschaft sucht und findet Qualität und geht dafür weite Wege. Sie steht übrigens auch für ihr Leben gerne an, oft, wie ich vermute, ohne zu wissen wofür. Wenn irgendwo eine Schlage entstanden ist, fühlen sich weitere Horden von ihr magnetisch angezogen. Denn hier scheint es Lohnenswertes zu geben. Also sicherheitshalber einreihen, auch wenn sich dann herausstellt, dass es nur Kaffee gibt, den es im vollständig schlangenfreien Laden nebenan ebenso gegeben hätte.

 

Aber zurück zu den Hidden champions. Unser aller liebster Plattenladen in Hamburg, ach was: Deutschland, Europa, Erde, Universum and beyond, Michelle Records, liegt ja nun wirklich zentral, unweit von Mönckebergstraße und Spitalerstraße. Und trotzdem würde man den Ort nicht unbedingt laufkundschaftsgeneigt nennen. Nun stellt Euch mal vor, der Laden läge noch zwei Ecken weiter im zweiten Stock eines Wohn- und Geschäftshauses? So eine Lage ist für japanische Konsumenten Auftrag, Herausforderung und Qualitätsnachweis zugleich. Ausgiebige Recherche, vergleichsweise hohes verfügbares Einkommen und funktionierende (soziale) Netzwerke, ehedem Mundpropaganda genannt, tragen die japanischen Yuppies in die entferntesten Ecken und Etagen der hiesigen Urbanitäten.

 

Ja, Ihr habt richtig gelesen: Yuppies. Ein komischerweise völlig aus der Mode geratener Begriff, der vielen aufs Unschönste assoziiert ist mit Boomern, Generation X und sonstigen Weltendbeschleunigern. Aber tatsächlich ist Tokio voll von Yuppies. Es gibt hier sehr viele junge Menschen (derweil das ländliche Japan vergreist). Als größte Metropolregion der Welt (etwa 37 Mio. Einwohner) sind die Tokioterinnen und Tokioter nun wahrlich „urban“. Und Professionals sind sie allemal, nämlich zumeist Salaryman (サラリーマンsararīman) oder Career Woman (キャリアウーマンkyariaūman). Als Salaryman wird der Mann bezeichnet, der in irgendeinem Büro irgendetwas arbeitet und dafür irgendein Gehalt bezieht. Das weibliche Pendant war gemeinhin die Office Lady (オフィスレディofisuredi), eine in der Regel junge weibliche Angestellte, die meist weniger Befugnisse als ihre männlichen Kollegen hat. Der Begriff der Office Lady hat einen despektierlichen Ton und wird deshalb und auch, weil sich die Rolle der Frau in der Arbeitswelt auf einem überfälligen Weg der Modernisierung befindet, heute weniger benutzt. 

 

Salaryman und Career Woman frequentieren nicht nur die Dependancen italienischer, britischer und deutscher Luxusautohersteller und die sündhaft teuren Boutiquen internationaler Designer (Moncler ist das Jack Wolfskin Tokios). Nein, sie suchen und finden auch den Weg in die entferntesten, kleinsten, oft im doppelten Sinne abseitigsten Geschäfte und tragen so dazu bei, dass der analoge, unabhängige Einzelhandel hier in herrlichstem Anachronismus fortbesteht. COVID-19 hat dem fürchterlichen eCommerce auch hier ordentlich Zuwachs beschert, aber wann immer es möglich ist, frönt ganz Tokio dem analogen Konsum.

 

Auch ich leiste bei Big Love – und ja, auch andernorts – meinen Beitrag gegen eCommerce, wobei bei der Großen Liebe Konsum (schwarz-frisches Vinyl) und Rausch (prickelnd-perlendes Bier in der Eckbar) auf besonders schöne Art vereint sind.